Sehr geehrte Damen und Herren der Rostocker Bürgerschaft!
Vertikale Parteienpolitik oder horizontale Bürgergesellschaft
Ein Blick in die Geschichte…
Wer sich für die Geschichte der europäischen Gesellschaften interessiert, wird den großen Unterschied zwischen der deutschen und der britisch-englischen Entwicklung kennen. Die Engländer hatten seit dem 13. Jahrhundert ein Parlament, also ein Gremium, das für einen politischen Ausgleich und für Kompromisse zwischen Krone, Adel und Bürgern sorgen musste. Dieses gesellschaftliche Rückgrat hat in vielen Bereichen des Lebens, in der Politik, im Alltagsbewusstsein der Briten, ihrer Kunst und ihren Erfindungen für etwas gesorgt, das mit einer horizontalen Linie beschrieben werden könnte. Weil das so entstandene fair play, der englische Pragmatismus, die Utopie des Gentleman usw. den Gesellschaftsmitgliedern aber einiges abverlangte, entstanden zur Entlastung von den vielen gesellschaftlichen Regeln und Tabus der eigentümliche englische Humor und die sprichwörtliche englische Exzentrik. Die deutsche Geschichte verlief anders. Nach dem Trauma der Dreißigjährigen Krieges und der Feudalstaaterei wurde hierzulande im 18. Jahrhundert die Staatsidee und Vernunftgläubigkeit geboren, von Philosophen aus der Taufe gehoben und metaphysisch überhöht. Der Staat stand gleichermaßen über den Herrschern und den Beherrschten. So entwickelten sich in deutschen Landen mit der Zeit eine Staatshörigkeit und nach der von oben erzwungenen Reichsgründung 1871 eine eher vertikale Bewegung des Denkens und Handelns und Gehorchens und zugleich immer auch ein Anspruch auf das große Ganze. Die deutsche Kunstgeschichte und Philosophie ist voll davon. Und nicht nur sie.
Die Geschichte zeigt: Es gibt die vertikale Bau-und Denkweise und die eher horizontale Ausrichtung von Entwicklungen. Beides existiert oft gleichzeitig in den Gesellschaften und macht sich an ganz unterschiedlichen Phänomenen fest.
… und auf die Rostocker Gegenwart
Beim Blick auf den aktuellen Rostocker Theaterstreit sind mir diese unterschiedlichen Bewegungen und Entwicklungsrichtungen sehr deutlich ins Auge gefallen.
Im Streit liegen derzeit vier Parteien: der Oberbürgermeister, der Intendant des Volkstheaters, die Bürgerschaft und Teile der Stadtgesellschaft, die an sich und ihre Stadt einen Bildungsanspruch formulieren.
Nun aber ist es nicht so, dass klar gesagt und entschieden werden könnte, wer gegen wen antritt, denn in der Bürgerschaft sind die Fraktionen nicht einer Meinung, ja selbst in den Fraktionen gibt es unterschiedliche Auffassungen zu den Theaterereignissen und Äußerungen des Intendanten. Der OB widerspricht sich, wenn er die Arbeit des Intendanten zwar schätzt, aber die Kündigung allein wegen diskussionswürdiger Äußerungen ausspricht. Der Intendant ist Diener dreier Herren, denn er muss der Stadt als Träger des Theaters wie auch dem Publikum und seinem Ensemble gleichermaßen gerecht werden, eine Situation, die Widersprüche produzieren muss. Die sich auf ihr Recht der Meinungsfreiheit berufenen Bürger, Theatergänger, Journalisten und Künstler usw. richten je nach emotionaler Lage die Kritik mal stärker an den Oberbürgermeister, mal an die Abgeordneten der Bürgerschaft.
Eine Gemengelage ist entstanden, die unübersichtlich ist, gerade weil sich in Rostock etwas entlädt, was meiner Beobachtung nach nicht allein am Tatbestand der andauernden Krise des Kulturellen in der Stadt festmachen lässt. Die Krise des Kulturellen ist Folge, nicht Ursache dieser Entladung.
Es geht vielmehr um das Sichtbarwerden von Bruchzonen, von unterschiedlichen stadtgesellschaftlichen ideologischen „Platten“, die sich wie in der Geotektonik gegeneinander schieben, sodass sich die dabei entstehenden Spannungen in einem „Erdbeben“ entladen, aktuell in der Tragödie um das Rostocker Theater und die ausgebremste Entwicklung der Stadt, siehe Bauvorhaben, siehe Museumskonzept, siehe Heinkelmauer usw.
Ich möchte Ihnen allen anbieten, das tektonische Bild zu benützen. Es kann helfen, Klarheit über die ideologischen „Platten“ des vertikalen oder horizontalen Demokratieverständnisses zu gewinnen. Es kann Ihnen helfen, die Konfliktlinien besser zu erkennen, weil es keine Schuldzuweisungen beabsichtigt. Es geht um die Gesinnung der jeweiligen Akteure.
Gelingt Ihnen also, herauszufinden, welche Akteure dem vertikalen Verständnis von Politik und Demokratie zuneigen, also einer Regierungs- und Verwaltungsform von oben nach unten, und welche Akteure dem horizontalen Verständnis von Politik zuneigen, dann haben Sie die Erklärung für die Wucht und Unnachgiebigkeit auf beiden Seiten. In der Tat, beides scheint unvereinbar.
Für die vertikale „Partei“ stehen meiner Beobachtung nach folgende Attribute im Vordergrund: Beschlüsse, wenig Bürgerbeteiligung, wenig Diskurs, Meinungsmonopol, Zahlen statt inhaltlicher Abwägung, Führung statt Beteiligung, Erwartung von Pflichterfüllung und Gehorsam, Bevormundung, Humorlosigkeit, Machtbewusstsein usw.
Für die horizontale „Partei“ hingegen gilt das Gegenteil: Diskussion, Kompromiss, Diskurs zur Abwägung aller Argumente, Meinungsbildung, Inhalte vor Zahlen, Beteiligung, Erwartung von Engagement, Solidarität usw.
Als die Hauptfiguren der Rostocker Theatertragödie sehe ich Herrn Roland Methling mit seiner persönlichen DDR-Sozialisation als Protagonisten der vertikalen „Partei“. Auch die Schweriner Landespolitik in Sachen Kultur und Theater ist hier mit Herrn Brodkorb einzuordnen. Herr Latchinian hingegen verkörpert mit seiner persönlichen Lebensgeschichte und seiner Profession als Künstler die andere, die horizontale „Partei“. Auch die Rostocker Bürger, die überregionale Presse usw. ergreifen Partei für das horizontale Demokratieverständnis.
Sie, die Rostocker Bürgerschaftsabgeordneten verkörpern als Gesamtgremium für mich beide Parteien. Seit Jahren verfolge ich den Streit zwischen und in den Fraktionen. Nun gilt der Streit als eine wichtige und richtige demokratische Methode, doch darf er im Interesse der Stadt und Ihrer Wähler immer nur um des konstruktiven Ergebnisses willen geführt werden. Streit um des Streites willen oder parteipolitischer Logik wegen verhindert politisches Fortkommen, zerstört guten Stil, macht das Denken und die Sprache grob und verhindert schließlich Ihre persönliche Zufriedenheit, etwas Gutes geleistet zu haben. Diese Ausstrahlung einer zerrütteten Familie hat die Bürgerschaft sich leider in den letzten Jahren „ erarbeitet“. Viele Rostocker sehen das so, ich gehöre dazu.
Sie werden sich mit Ihrer Entscheidung am 13. April der einen oder anderen“ Partei“ zuordnen, ob Sie es beabsichtigen oder nicht. Ihre Entscheidung kann von einem vertikalen Politikverständnis zeugen, das an den kritischen Bürgern vorbei Politik betreibt, wobei man Ihnen unterstellen wird, Politik lediglich als Vehikel eigener persönlicher Karriereplanung und persönlicher Befindlichkeiten zu gebrauchen, ohne belastbare Überzeugungen zu agieren usw. Oder Ihre Entscheidung kündet von dem Respekt vor anderen Meinungen unbequemer Zeitgenossen, von Ihrem Selbstverständnis als kritikfähige Volksvertreter, die den Mut haben, sich auf eigene Überzeugungen zu berufen und die gefällten Entscheidungen persönlich in der Stadtöffentlichkeit zu argumentieren.
Meiner Beobachtung nach braucht Rostock diese letztgenannten Ehrenämtler in politischer Funktion. Die Stadtentwicklung leidet unter der angestauten Energie der beiden von mir beschriebenen „Platten“ oder „Parteien“. So entstehen immer wieder atmosphärische „Erdbeben“. Auf einem unsicheren Grund aber entsteht nichts Neues, deshalb kommt Rostock in seiner kulturellen Entwicklung jenseits großer Feste mit vordergründig kommerziellem Ambiente nicht voran.
Im Hinblick auf den Stadtgeburtstag 2018 gilt es, unsere alte Stadt zu ehren. Wie könnten wir es besser als mit einer reichen Kulturlandschaft und einer streitbaren, doch konstruktiven Bürgerschaft, die an der Seite der Rostocker steht! So wird Rostock das Lächeln wieder erlernen!
Ich setze, ganz in deutscher Tradition, auf Ihren Blick fürs Große und Ganze, auf Ihre Vernunft und hoffe zugleich auf ein englisches fair play und einen Pragmatismus, der die Interessen der Rostocker respektvoll abwägt und einen tragfähigen Kompromiss herbeiführt.
Mit hochachtungsvollen Grüßen
Antje Jonas
Rostockerin, Logopädin, Ehrenämtlerin