Gedanken von Antje Jonas
Die Theaterkünste sind geistig wirksam. Sie leisten für den einzelnen und die Gesellschaft einen unverzichtbaren Beitrag zur Entwicklung einer echten Individualität. Sie sprechen das Gefühl an und vermitteln ästhetisches Vergnügen. Sie mischen sich ein in die Gegenwart und ermöglichen Erkenntnisse, Orientierung und Identifikation mit dem jeweiligen Ort und der Zeit, in der wir leben.
Wir können es bei klugen Autoren nachlesen: Wir wollen vieles nicht sehen, was unsere Gesellschaft dieser Tage ausmacht, was sie stresst, was uns überfordert. Wir ignorieren, immunisieren uns allzu oft gegen den beunruhigenden Ernst der Lage. Was verweist mit starken Fakten auf eine gelingende Zukunft in Sicherheit, Gesundheit, Frieden und Freiheit? Derzeit erleben wir die Zunahme des „kalten Blicks“, die Abnahme von Mitgefühl, von Solidarität, von Geist und Toleranz, von differenzierter Sprache und Geduld. Wir wissen viel, aber wir fühlen wenig.
Faktenreiches Wissen ist nicht gleichzusetzen mit dem Gewinn einer Erkenntnis. Ich unternehme nach der Lektüre Mut machender Artikel und Bücher zur Wirksamkeit von Kunst den Versuch, die Kunst des Theaters als gesellschaftliche Notwendigkeit darstellen und zu verteidigen.
Erstes Argument: Theater sind demokratisch nutzbare Räume. Theater sind öffentliche Räume der Kunstproduktion und der Kunstrezeption. Sie besitzen einen inklusiven Charakter und werden von der Öffentlichkeit mit Steuergeldern finanziert. So entstehen u.a. bezahlbare Eintrittspreise. Die Theater als demokratisch nutzbare Räume sind für alle Bürgerinnen und Bürger zugänglich. Sie sind das Gegenstück zum privatisierten Kunstmarkt mit seinen ökonomisch motivierten Kunstangeboten.
Zweites Argument: Die Theaterkunst fußt auf einem humanistisch geprägten Menschenbild. Die Theater-Künste produzieren Denk-Inhalte in einem dreidimensionalen Raum; die Kunst-Dimension tritt hinzu. Alle Theaterkunst geht vom Menschen aus, nicht von der Maschine oder der Zahl, nicht vom Bildschirm mit seinen vorgefertigten Inhalten. Es geht um Probehandeln, um Vergegenwärtigung von Situationen menschlicher Grundkonstellationen. Damit tritt das Theater auf gegen eine zunehmende Sprach- und Denkfaulheit. In den Theater-Künsten veranschaulicht sich ideengeleitetes Handeln; alte Fragen nach der menschlichen „Gussform“ werden neu gestellt; grundlegend ist das humanistische Menschenbild. Damit wendet sich Theater gegen den „kalten Blick“, gegen das mechanische Menschenbild der Selbstoptimierung (Neoliberalismus).
Drittes Argument: Theater verlangen vom Besucher eine geistige Anstrengung. Die durch die Theater-Künste vermittelte Kunsterfahrung verlangt dem Theaterbesucher eine geistige Anstrengung ab und setzt einen Lernprozess in Gang; sie wirkt gegen Erfahrungsarmut und die „Abwesenheit“, den Transit-Zustand des Individuums. Die Theater-Künste wecken im Zuschauer Emotionen und wirken gegen die anwachsende Teilnahmslosigkeit angesichts einer Übermacht an Informationen. Die Theaterkunst verlangt vom Zuschauer Konzentration. Damit können Theaterbesuche einer zunehmend verflachenden Wahrnehmung der Umwelt entgegenwirken. Sie können den dezentralen Blick des Individuums auf seine Umwelt positiv verändern.
Viertes Argument: Theaterbesuche stiften Geselligkeit und Gemeinschaft. Die Theater-Künste materialisieren sich in Vorstellungen; diese sind gesellige und gemeinschaftliche Erlebnisse. Damit wendet sich das Theater gegen die zunehmende Vereinzelung, gegen den Selbstbezug und die alltäglich zu beobachtende kommunikative Selbstgenügsamkeit. Theater bieten im Kunstgenuss den Moment der Entschleunigung, des Innehaltens, des Staunens, der Entwicklung von Urteilsfähigkeit und können die oftmals anzutreffende vorschnelle und plakativ zweigeteilte Meinungsäußerung mittels Austausch und Diskussion positiv verändern.
Fünftes Argument: Theater vergegenwärtigen die eigene (Kultur-)Geschichte. Theater integrieren Stoffe und Texte des eigenen Kulturkreises, der eigenen Traditionen und üben Gesellschaftskritik. Damit spielen sie an gegen eine zunehmende Geschichtslosigkeit.
Sechstes Argument: Theaterkunst ist komplex und liefert künstlerische Maßstäbe aus. Die Theater-Künste sind unverändert mit Virtuosität sowie künstlerischen Fähigkeiten und Fähigkeiten verbunden. Die komplexen Kunst-Produktionen liefern ihre Maßstäbe selbst aus. Diese sind viel mehr als das Kriterium des bloß Ökonomischen und Originellen. Damit verteidigen Theater die Kunst der Musik, des Schauspiels, des Gesangs und des Ballettes gegen narzisstische Selbstveröffentlichungen einzelner, gegen die Ideenlosigkeit und Irrelevanz von Kunstangeboten; gegen das absichtliche Zerbrechen von Maßstäben.