Es bleibt insgesamt verwunderlich und unbefriedigend, dass das Rostocker Volkstheater im großen Wagner-Jahr nur recht dünn dieses Ereignis begangen hat. Oftmals wurden Kosten – und Besetzungsgründe für Operninszenierungen vorgeschoben, dabei hätte man konzertante Aufführungen und Konzerte mit größerem Wagner-Anteil phantasievoll planen können. Eine wohltuende Ausnahme bildete da der „Förderverein des Volkstheaters“, der durch verschiedene interessante Vorträge an das Leben und Wirken Richard Wagners erinnerte.
Insgesamt scheint mir aber eher, dass das Bewusstsein vom „Norddeutschen Bayreuth“ in Rostock zu schwinden droht. Nur dem Fachpublikum ist bekannt, dass Rostocks Bühne zum „Sprungbrett“ für später berühmte Wagner-Interpreten (Sänger, Dirigenten, Regisseure) wurde. Umgekehrt blieb das Rostocker Theater kontinuierlich und über einen langen Zeitraum Zentrum für bedeutende Gäste aus dem Wagner-Umfeld. Die personelle Verbindung (Besuch, Ausbildung und Beziehungen zum Hause „Wahnfried“) war tiefgreifend und langanhaltend.
Obwohl sich die Landeshauptstadt Schwerin eher und intensiver mit dem Werk Wagners beschäftigte, wurde in der Folgezeit Rostock zum „Norddeutschen Bayreuth“. Diese Entwicklung begann recht zaghaft: So wurde „Tannhäuser“ 1854, „Holländer“ 1860 und „Lohengrin“ 1863 gespielt.
Aber erst durch den Neubau, Eröffnung des Stadttheaters 1895 und grundlegende Veränderungen der Orchesterkultur (Aufbau eines professionellen Orchesters!) gelang ein gewaltiger Aufschwung der Rostocker Theaterkultur insgesamt, aber auch ein beeindruckender „Boom“ der Wagnerschen Werke. Insgesamt wurden von 1895 bis 1933 676 Aufführungen Wagnerscher Werke realisiert, davon allein 650 „vollständige“ Opern. Bis auf die „Feen“ – einem Frühwerk Wagners – wurden am Stadttheater alle Opern Richard Wagners inszeniert. Das Herzstück der Wagner-Pflege in Rostock, der „Ring des Nibelungen“, wurde in der Zeit von 1995 bis 1933 immerhin achtmal in Neuinszenierungen dargeboten. Dies war ungewöhnlich, da selbst Bayreuth sich an dieses Riesenwerk (in sängerischer, technischer und letztlich auch finanzieller Hinsicht) – obwohl mit ganz anderen Mitteln ausgestattet – nur selten traute.
Die am meist gespielte Oper war in Rostock der „Tannhäuser“. Erstaunlich bleibt, dass Rostock noch vor Schwerin und anderen Bühnen den „Parsifal“ 1917 herausbrachte, da die finanziellen Forderungen aus Bayreuth (Tantiemen) nach Ablauf der Schutzfrist für das deutsche Theater nicht unwesentlich waren. Große Opernhäuser wie Berlin und München konnten sich eigentlich nur solche kostspieligen Aufführungsrechte leisten. Es scheint, dass durch die guten Verbindungen zum Hause „Wahnfried“ beste Konditionen herausgehandelt werden konnten. Auch im Vergleich der Neuinszenierungen lag die Provinz (Rostocker Stadttheater) qualitativ deutlich vor den Opernhäusern in Hamburg und München.
Einen gewaltigen Anteil an der sich entwickelnden Wagner-Tradition am Rostocker Stadttheater hatte der Rostocker Germanist, Wagner-Forscher und Freund der Familie Wagner Prof. Wolfgang Golther. Er schrieb als Universitätsprofessor Bücher über Richard Wagner und seine Werke und viele Rezensionen, war im Wagner-Verein aktiv, hielt Vorträge als Einführung zu den Musikdramen und wurde als Berater sehr geschätzt. Golther begegnete Richard Wagner in Bayreuth und blieb auch nach dessen Tod der Familie eng verbunden. Dort beriet er Cosima Wagner bei den Festspielen und schrieb für die Festspielzeitung.
In Rostock wirkten ungewöhnlich viele Künstler aus dem Bayreuther Umfeld, die entweder vor ihrem Engagement in Rostock oder danach in Bayreuth gastierten. Zu vermuten ist, dass die engen Verbindungen Rostock-Bayreuth verantwortlich waren, dass ein regelmäßiger Sängeraustausch stattfand. Talente, die in Rostock entdeckt wurden, empfahl man nach Bayreuth, so u.a. Frida Leider, Lotte Lehmann, Nanni Larsen-Todsen, Rudolf Bockelmann, Eduard Habich und Walter Kirchhoff.
Rostocker Regisseure wurden in Bayreuth Regieassistenten oder Inspizienten. Die Kostüme wurden aus Bayreuth geliefert, gleichfalls sogar Technik und Beleuchtung. Technische Leiter, die in Rostock arbeiteten, wurden nach Bayreuth „ausgeliehen“.
Viele Dirigenten, die in Rostock wirkten, waren auch in Bayreuth aktiv, so Felix von Weingartner, Wilhelm Furtwängler, Sigmund von Hausegger, Alfred Cortot, Artur Rother, Hermann Abendroth, Richard Strauss und andere.
Es gab „Wagner-Morgenfeiern“ und „Wagner-Festspiele“, die durch Aufführungen von Werken Engelbert Humperdincks, Siegfried Wagners und Max von Schillings – also dreier Komponisten aus dem Bayreuther Umfeld – ergänzt wurden.
Zur 500-Jahr-Feier der Rostocker Universität führte das Theater Humperdincks Studenten-Oper „Gaudeamus“ erstmalig auf. Der Komponist war Ehrengast dieser Vorstellung. Auch Max von Schillings war häufig in Rostock und dirigierte sowohl seine Opern als auch Werke von Richard Wagner. Die hohe Wertschätzung, die die Rostocker Bühne im Hause „Wahnfried“ in Bayreuth genoss, lässt sich auch daraus erkennen, dass Wagners Sohn Siegfried in Rostock dirigierte und seine Oper „Der Schmied von Marienburg“ 1923 in Rostock sogar selbst uraufführte. Auch nach dessen Tod 1933 wurde seine Witwe Winifred, nunmehr Festspielleiterin in Bayreuth, als Ehrengast nach Rostock eingeladen.
Auch nach 1933 wurde die erfolgreiche Wagner-Tradition fortgesetzt, natürlich unter ganz anderen politischen und politisch-kulturellen Ausgangsbedingungen. Wunderbare Aufführungen – oft auch im Hinblick auf Bühnenbild und Regie – wurden gegeben. Viele bekannte und in Bayreuth schon aufgetretene Künstler gastierten in Rostock.
Nach der Bombardierung Rostocks und der damit verbundenen Zerstörung des herrlichen Stadttheaters erfolgte eine Zäsur der umfangreichen Wagner-Pflege und Tradition, zumal auch schon die technischen Grundlagen des Hauses (Gewerkschaftshaus) mehr als begrenzt waren.
In Rostock beschäftigte man sich nach dem Krieg eher mit dem Werk Wagners als an anderen Theatern. „Holländer“, „Tannhäuser“, „Meistersinger“ und „Walküre“ wurden früh und recht häufig aufgeführt. Auch Konzerte mit Wagner-Anteil wurden jetzt organisiert. Dies alles kann man als Versuch werten, an die lange Wagner-Tradition wieder anzuknüpfen. Anfänglich sah auch alles danach aus und als auch noch 1953/54 in der Intendanz Hanns Anselm Pertens das Herzstück Rostocker Wagner-Pflege, nämlich der „Ring“ in realistischer Darstellung inszeniert wurde, der der erste „Ring“ auf dem Gebiet der DDR war, konnte man davon ausgehen, dass die Rostocker Bühne wieder zu alter Blüte gelangen würde. Viele bekannte Sänger mit Bayreuth-Erfahrung brachten dieser Aufführung alten und neuen Glanz. Jedoch wurde dieser „Ring“ ein Einzelfall. Spätestens jetzt erfolgte der endgültige Bruch mit der alten Wagner-Tradition in Rostock. Auf „Parsifal“ und „Tristan“ als Opernaufführung musste das Rostocker Publikum bis heute verzichten. „Tristan“, in den letzten Jahren akt- und musikalisch Häppchenweise aufgeführt, blieb unbefriedigend. Die lange Kontinuität sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht ist beendet.
Die Beschäftigung mit der reichen Historie und der großen Tradition des Rostocker Theaters schafft eine Standortbestimmung, Identifikation und Möglichkeiten für die Zukunft des Hauses, die freilich genutzt werden müssen. Es bleibt abzuwarten, wie sich die neue Theaterleitung dazu positioniert. Schon im nächsten Jahr gibt es hierzu eine Möglichkeit: 2014 wäre der 150. Geburtstag von Richard Strauss zu feiern, auch er ein Künstler aus dem Bayreuther Kreis, der in Rostock gern und oft dirigiert hat. Seine Werke wurden vergleichsweise häufig in Rostock gegeben. Richard-Strauss-Feste wurden damals ins Leben gerufen!
2015 ist nach 120 Jahren an die Eröffnung des neuen und leider im II. Weltkrieg zerstörten Stadttheaters zu erinnern, welches im Übrigen programmatisch bewusst 1895 u.a. mit dem II. Akt aus „Lohengrin“ eröffnet wurde.