Als Sewan Latchinian, der von den Stadtoberen erwählte Intendant, nach Rostock kam, erwarteten Politik, Verwaltung sowie auch das Publikum neuen Schwung für das von vielen als lethargisch wahrgenommene Vier-Sparten-Volkstheater. Der Theatermann machte sich an die Arbeit und versetzte mit seiner Energie und Leidenschaft die Rostocker in Erstaunen.
In nur zwei Jahren kamen zustande: zwei bemerkenswerte Theaterspektakel, mehrere Uraufführungen, darunter ein Text von Uwe Johnson. Gespielt wurde in der Brauerei und im Bunker, im Zoo und auf der Hohen Düne. In der Kleinen Komödie gelang die Sommerbespielung. Die Theaterkantine lud nach Vorstellungsende die Zuschauer zu Gespräch und Wein. Ein neues Format, der „Denkraum“, ging an den Start. Und so auch die Bürgerbühne und das Puppenspiel. Bis heute fährt die blaue Theaterstraßenbahn durch Rostock und kündet von dem Potenzial und Aufbruch des Volkstheaters unter dem Intendanten Sewan Latchinian. Zwei und oftmals drei Vorstellungen täglich sorgten dafür, dass das Theater vom Stadtvolk wieder wahrgenommen wurde. Wer versucht, dem Intendanten und dem Ensemble künstlerisches Versagen vorzuwerfen, sollte gut argumentieren können.
Die wirkliche Krise setzte mit der wankelmütigen Kulturpolitik der Bürgerschaft ein, die dem Druck seitens des Oberbürgermeisters und des Kultusministers nicht standhalten konnte oder wollte. So sah sich der Intendant, zweifellos ein kantiger Charakter und Urheber markiger Worte, nach nur wenigen Monaten mit einem beispiellosen Schwenk der Rostocker Theaterpolitik konfrontiert. Sicher gehört es zu den Aufgaben eines Geschäftsführers, sich dem Gesellschafter gegenüber loyal zu verhalten. Doch für den politisch gewollten, organisierten Kulturabbau brauchte es keinen Intendanten, sondern einen Insolvenzverwalter. Diese Rolle zu übernehmen war der Intendant nicht bereit. Kann man ihm das vorwerfen?
Wir alle gehören nun ein weiteres Mal zu den Verlierern einer Kulturpolitik, die ein kluges und geordnetes Verfahren genannt zu werden nicht verdient. Es fehlt, frei nach Brecht, an Leidenschaft, Anmut, Mühe und Verstand.
Rostock verliert einen streitbaren Intendanten. Rostock verspielt mit dem Abbruch einer vielversprechenden Theaterentwicklung ein weiteres Mal die Chance, seine kulturelle Identität jenseits großer Volksfeste auszuprägen. In Rostock gilt eine Meinung schon als Argument; hier reicht es, sich persönlich bei Amtsinhabern und Volksvertretern missliebig zu machen, um abgestraft zu werden. Eine Stadt, die ihre Kultur nicht schätzt, die Intendant um Intendant verschleißt, die mit ihrer eigenen Geschichte kulturell nur wenig anzufangen weiß, ist keine Großstadt! Rostock verzichtet schlecht gelaunt weiterhin auf eine niveauvolle Streitkultur, auf geistvolle Urbanität und wird mit dieser provinziellen Miesepetrigkeit unweigerlich weiter zurückfallen hinter die anderen Ostsee-, Hanse- und Theaterstädte.
Im Namen des Vorstandes
Antje Jonas
Vorsitzende